Was seit der Wende gelungen ist und was nicht, erläutert der ehemalige Vizekanzler Erhard Busek im
Interview mit dem WirtschaftsBlatt und übt dabei harsche Kritik an der EU.
WirtschaftsBlatt: Wenn wir Sie 1984 gefragt hätten, wie lange der Eiserne Vorhang noch halten wird -
was hätten Sie damals geantwortet?
Erhard Busek: Meine Antwort wäre gewesen: „Ich fürchte,
meine ganze Lebenszeit. Irgendwann einmal fällt er, aber es sieht nicht so aus, als ob er bald
verschwinden würde."
Wann haben Sie realisiert, dass etwas Unumkehrbares passiert?
Als die Solidarnosc den runden Tisch in Polen erreicht hat. Es hat die These gegeben, dass sich in der
Tschechoslowakei nichts tun wird, aber gerade dort hat dann die Samtene Revolution zugeschlagen.
Inwieweit haben sich die Hoffnungen, die Sie 1989 nach der Wende gehabt haben, erfüllt?
Ich
bin unter jenen gewesen, die überzeugt waren, dass das ein historischer Prozess ist, der lange dauert.
Daher bin ich eigentlich mit dem Ergebnis sehr zufrieden.
Was hätten die Staaten im Westen
und Osten besser machen können?
Natürlich hätte die Vergangenheitsbewältigung da und dort
besser passieren sollen, aber gerade als Österreicher muss man da bescheiden sein. Was ich mir gewünscht
hätte und mir heute immer noch wünsche, ist, dass die Politik eine bessere Kenntnis von den Menschen
dieser Länder hat. Die Politik auf der westlichen Seite des eisernen Vorhangs hat gesagt: „So, jetzt
macht ihr eine Demokratie und eine Marktwirtschaft und dann werden wir schon sehen." - Also Konzept war
keines vorrätig. Es ist ein Glück, dass es die europäische Integration gibt, aber das war mehr eine Idee
der betroffenen Staaten, als eine tiefe innere Überzeugung auf der anderen Seite.
Wie
beurteilen Sie die Entwicklung in der Region der ehemaligen UdSSR?
Hier haben die
Harvard-Boys mit dem Samsonite in der Hand zunächst einmal radikale Reformen gemacht, die zu der jetzigen
Wirtschaftskatastrophe geführt haben. Ich glaube, dass man für gesellschaftliche Übergänge - und
wirtschaftliche Übergänge sind auch gesellschaftliche Übergänge - doch Modelle vorziehen sollte, die
Schritt für Schritt vor sich gehen und nicht radikal, weil dann immer gesellschaftliche Gruppen die
Rechnungen zahlen. Also die Marktwirtschaft hätte mehr eine soziale Marktwirtschaft sein sollen. Wenn ich
mir heute zum Beispiel die Rentner und Pensionisten in unserer Nachbarschaft ansehe - die zahlen die
Rechnung für die Freiheit.
Ist es überhaupt denkbar, dass man solche Übergänge graduell
gestaltet? Die Reform lebt ja auch vom Kontrast...
Ich würde sagen, denkbar ist alles, man
müsste es nur probieren. Aber es hat ja nicht einmal eine Vorstellung dazu gegeben. Was verkannt wurde,
ist, dass die Generationen ein unterschiedliches Verhalten haben. Die, die im Kommunismus groß wurden,
hatten keine andere Vorstellung. Die mittlere Generation hat irgendwo unsere Mentalität mitbekommen. Und
die junge Generation ist relativ rasch in unsere Wettbewerbsgesellschaft eingestiegen - mit einer
gewissen Brutalität, weil die halt relativ rasch dort ankommen wollen, wo wir schon sind.
Gibt es aus Ihrer Sicht Länder, wo ein langsamerer Übergang zu einer sozialeren Marktwirtschaft besser
gelungen ist?
Es sind unterschiedliche Entwicklungen. Interessant ist, dass das bestechendste
Modell - nämlich die Wiedervereinigung der beiden Deutschlands - nicht dazu geführt hat, dass das
irgendwie abgefedert wurde. Obwohl unheimlich viel Geld bewegt wurde. Wenn man heute die Infrastruktur
der neuen Bundesländer betrachtet, ist das phantastisch, die Situation der Menschen ist etwas
problematischer. Ein bisschen weniger Infrastruktur und mehr sozialer Bezug wäre vielleicht besser
gewesen.
Die Infrastruktur war der Versuch, dort Arbeit zu schaffen...
Nur bin ich
mir nicht ganz sicher, ob das nicht zum größeren Teil Arbeit für den Westen gewesen ist.
Wie
erklären Sie sich die Entwicklung vom Vorzeiger-Reformland zum Problemfall in Ungarn?
Erstens
durch eine Reihe von politischen Fehlentscheidungen und zweitens durch eine tiefe gesellschaftliche
Spaltung, die historisch ist.
Die Ungarn sind in der Slowakei die größte ethnische
Minderheit. Zwischen Ungarn und der Slowakei gibt es immer wieder Konflikte. Was läuft da falsch?
Ich glaube, dass sich die Priorität des Wirtschaftlichen hier rächt. Man muss natürlich sagen,
dass das ganz wichtig ist, und es ist das, was am besten gelungen ist. Dass es aber neben Verdienen,
Marktwirtschaft und Investitionen auch geistige, soziale und gesellschaftliche Komponenten gibt, das ist
vernachlässigt worden. Das ist auch die Schwäche der Europäischen Union - das Beibehalten der nationalen
Denkmuster.
Und das rächt sich?
Ja, weil Europa dadurch rein global keine
Position gewinnt. Ich kann hier Sergej Karaganov zitieren - das ist einer der politischen Theoretiker mit
Beratungsfunktion für die russische Regierung -, der bei einem Gespräch erklärt hat, man muss mit der
Europäischen Union nicht reden, weil die Europäische Union machtlos ist. Das kann man wirklich ins
Stammbuch aller 27 Ministerpräsidenten schreiben.
Das heißt, die Europäische Union
müsste was tun - oder sich wie umorganisieren?
Politisch handlungsfähig werden. Ganz einfach.
Um es praktisch zu sagen: Statt einer Kommission eine Regierung und ein Parlament, das den Namen verdient
und wirklich etwas entscheiden kann. Derzeit ist die EU wirtschaftlich ungeheuer bedeutend und politisch
ungeheuer unbedeutend. Die Amerikaner haben diesen wunderschönen Satz:„The European Union is a global
payer, but not a global player."
Wenn diese Umgestaltung nicht passiert, besteht dann die
Gefahr, dass die EU scheitert und zerfällt?
Es besteht die Gefahr, dass die EU rein politisch
in Stücke zerfällt. Es ist sozusagen eine besser entwickelte Freihandelszone mit ein paar Instrumenten,
aber es gibt keine politische Handlungsfähigkeit.
Ist die Wirtschaftsunion längerfristig
überhaupt vorstellbar?
Ja, aber nicht ohne Politik. Sie merken die Folgen jetzt schon, weil
für die Wirtschaftsunion die rechtlichen Rahmenbedingungen existieren müssen, und die sind dann jeweils
politisch durchzusetzen. Also ohne Gesetz kommen Sie nicht ganz aus.
Das heißt, ohne
politische Union wird auch die Freihandelszone nicht mehr existieren?
Ja.
Sie
haben vorher von Staaten gesprochen, die nicht fusioniert wurden, und wo die Entwicklung besser ist. In
der Tschechoslowakei war die Entwicklung ja gegenläufig...
Das ist eine interessante
Geschichte. Es hat sich gezeigt - und das ist dasselbe wie bei Jugoslawien -, dass die Friedensschlüsse
nach dem ersten Weltkrieg keine haltbaren Lösungen erzeugt haben. Sie haben bestimmte Wirklichkeiten
ignoriert und den Prozess einer gewissen Nationswerdung vernachlässigt. Wobei die Sache bei der
Slowakei ausgezeichnet ausgegangen ist. Bei der Nachfolge von Jugoslawien war es mit vier Kriegen
natürlich weitaus schmerzlicher.
Das heißt, es dauert in Ex-Jugoslawien einfach länger, bis
die Wunden verheilen?
Ja. Da gibt es keine Vorgeschichten - mit Ausnahme des serbischen
Königreiches und des Königreiches Montenegro. Es zeigt sich deutlich, dass multilaterale Kooperationen in
der Region kein Problem sind - Probleme gibt es im bilateralen Bereich.
Beim Grenzstreit
zwischen Slowenien und Kroatien um die Bucht von Piran zum Beispiel?
Das ist aktuell, aber es
gibt eine Kiste von Problemen zwischen allen diesen Staaten. Die Problematik der Grenzziehung ist aber
Ausdruck der eigenen Unsicherheit. Wenn beide in der EU sind, ist das überhaupt kein Problem, aber jetzt
wollen die Slowenen einmal klarstellen, dass sie zwar ein kleines Land sind, aber dass sie souverän sind
und man auch auf sie hören muss. Die diversen nationalen Minderheitskomplexe bei allen Beteiligten
spielen hier eine ganz starke Rolle. Die muss man respektieren.
Sollte da Österreich
nicht überhaupt eine größere Rolle spielen. Wir kennen das Problem mit dem nationalen Selbstverständnis
ja aus eigener Anschauung...
Ich würde Ihnen abstrakt recht geben, dass wir eine größere Rolle
spielen sollten, wir sind aber immer gefährdet, dass wir glauben, wir sind besser als die anderen. Es
müsste also eher - ich wage das Wort zu sagen - in einer dienenden Rolle sein. Und nicht - das ist uns
zum Beispiel bei der strategischen Partnerschaft (EU-Ostpartnerschaft mit sechs ehemaligen
Sowjetrepubliken, Anm.) passiert - den Eindruck erwecken, wir wissen, wie es geht, also macht das, was
wir euch sagen! Das wäre sicher falsch. Wir haben momentan eine ganz andere Entwicklung, nämlich dass wir
uns rein politisch gesehen überhaupt aus allem raushalten. Arik Brauer feiert fröhliche Urstände:
„Hintermeiner, vordermeiner, links, rechts, güt's nix."
Es gibt 20 Jahre nach dem Fall
des Eisenen Vorhangs von Österreich und den alten EU-Ländern noch immer sehr große Ressentiments
gegenüber den Ostländern - wie erklären Sie sich das?
Ganz einfach: Durch mangelnde Kenntnis.
Wenn ich mich mit etwas auseinandersetzen muss und ich kenne es nicht, bin ich zunächst einmal dagegen.
Diese Primitivreaktion herrscht hier vor. Wobei ich positiv erwähnen möchte, dass sich die junge
Generation anders verhält. Die sind einfach neugierig und haben ein völlig unpolitisches Verhältnis
dazu.
Sollte auch mehr über die EU-Erweiterung gesprochen werden, um Wissen auf- und
Ressentiments abzubauen?
Da haben Sie mehr als recht. Ich sage Ihnen ein Beispiel für die noch
ausstehenden Staaten am sogenannten Westbalkan. Der Schock für die Mitgliedsstaaten ist, dass es so viele
sind. Also Kroatien, Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien und Kosovo. Sechs Staaten! -
dabei sind die zusammen nur die Hälfte von Polen. Das ist das schreckliche Institutionsdenken und nicht
das Inhaltsdenken, das die Regierungen beherrscht. Natürlich ist es mit 33 Staaten an einem Tisch
schwieriger als mit 27, wenn 27 schon schwierig sind. Aber es wäre vielleicht ein Grund, das System zu
überdenken, um es wirklich operabel zu machen.
Sehen Sie das als eine Voraussetzung für
eine Erweiterung, dass sich die EU anders aufstellen muss?
Das sehe ich nicht als
Voraussetzung für die Erweiterung sondern überhaupt für die Handlungsfähigkeit Europas.
Diese
Staaten scheinen aber alle untereinander Probleme zu haben...
Darum sollte man zuerst Kroatien
und dann die anderen im Block aufnehmen. Die sollen alle Bedingungen erfüllen, auch wenn es zwei Jahre
länger dauert. Es war schon ein Fehler, dass man bei den Rumänen und Bulgaren daneben geschaut hat.
Und die Türkei?
Das entscheidet sich innergesellschaftlich. Das ist eine andere
Identität. Das ist nicht europäisch. Diese Entwicklung hat die AKP sehr stark betrieben. Innerlich aus
guten Gründen. Nur das führt weg von der EU. Gegenwärtig wollen auch nur 30 Prozent der Türken in die
EU.
Das war ja vor zwei Jahren noch anders ...
Ja, nur glaube ich, dass in Folge
der Entwicklung eines türkischen Mittelstandes, der ja irgendwo aus dem tiefen Anatolien in die Städte
kommt, geschieht dort eine Veränderung. Ich glaube, dass wir die Türkei noch immer in der Kategorie
behandeln, als wäre sie ein wichtiges Bollwerk gegen die Sowjetunion. Die Sowjetunion in dem Sinn gibt es
nicht mehr. Die Frage Bollwerk steht nicht mehr zur Diskussion. Und ich beobachte mit Interesse, dass in
der Türkei stärker die osmanischen Erinnerung aufkommen.
Gibt es noch andere mögliche
Kandidaten für die Aufnahme in die EU?
Wenn ich jetzt abstrakt von den Zuständen der Länder
absehe, sind das Ukraine und Weißrussland und Moldau - oder Moldawien, wie sie wollen. Nur, das dauert
noch und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Ich bin auch nicht sehr glücklich über dieses Produkt der
Ostpartnerschaft, weil sie in Wirklichkeit keine Ansage hat. Da sage ich aus meiner wirklich intensiven
Balkanerfahrung, wenn sie nicht wirklich eine Perspektive eröffnen können, funktioniert das nicht. Wir
haben unsere Geschäft der Stabilisierung am Balkan nur mit der Perspektive von EU und Nato betreiben
können. Sie brauchen ein Ziel. Zu sagen, „fein ihr seid unsere Nachbarn", das ist ein bisserl zu wenig.
Geld allein ist es nicht. Den Fehler haben die Europäer schon gemacht, im Versuch des Zummenhaltes von
Jugoslawien - wir zahlen euch was, damit ihr beieinander bleibt. Da gehört ein bisserl mehr dazu.
Das inkludiert aber schon, dass Nato-Mitgliedschaft und Weg in die EU zusammenhänge - was ja von
der EU immer wieder dementiert wird.
Inhaltlich nicht aber als Schritt in diese Richtung ist
es für diese Länder bedeutend. Wobei dazu kommt, dass die Nato-Mitgliedschaft leichter geht als die
EU-Mitgliedschaft. Die EU-Mitgliedschaft sind 90.000 Seiten, die man sozusagen erfüllen muss, die
Nato-Mitgliedschaft ist die Zustimmung der Amerikaner plus einige militärische Konditionen. Das ist
einfacher managebar. Inhaltlich hat es eigentlich keinen Zusammenhang. Es geht auch ohne
Nato-Mitgliedschaft, wie die Schweden, Finnen, Österreicher zeigen.
Glauben Sie, dass Russland
längerfristig eine Perspektive hat, Mitglied der EU zu werden?
Nein, von sich aus nicht. Die
Russen haben eine starke imperiale Tradition, durch Jahrhunderte, und sehen sich als Partner von
Washington. Und siehe Zitat von Karaganov von vorher - für die ist die EU eine machtlose Sache. Da gibt
es überhaupt kein Intersse - im Gegenteil - es wird als eine Zumutung betrachtet. Es wäre auch für die EU
die Verantwortung bis Wladiwostock schwer verkraftbar.
Aber ist es dann nicht völlig
aussichtslos, zum Beispiel die Ukraine integrieren zu wollen? Die gehört ja auch eindeutig zu diesem
imperialen Selbstverständnis.
Dieses imperiale Selbstverständnis sollte man eigentlich nicht
akzeptieren, weil die Ukraine natürlich auch eine europäische Geschichte hat - das gilt insbesondere auch
für die österreichische Vergangenheit. Ich glaube, dass man im Zusammenhang mit Russland eine Sache im
Auge haben muss: Dort wohnen nicht nur lauter Russen. Das ist eine - vom nationalen gesehen her - reiche
Landschaft. Ich persönlich bin gar nicht sicher, ob sich dort nicht auch - wie bei das bei uns von Westen
nach Osten entwickelt hat - stärkere Identitätssehnsüchte auftreten. Das haben sie am Kaukasus und ich
bin mir nicht sicher, ob da nicht, wenn sie weiter östlich gehen, eine Fülle von internen Problemen
entstehen.
Eine Gefahr, dass die Region weiter zerfällt?
Das traue ich mir nicht
vorauszusagen, aber dass Putin darin eine Gefahr sieht, sehen Sie an der Zentralisierung. Da entstehen
eine Fülle von anderen Problemen.
Die zentrale Regierung in Russland hat ja auch
Tradition...
Wobei die Erwartung, dass die demnächst in Demokratie ausbrechen, ist eigentlich
falsch ist, weil sie ja auch keine demokratischen Traditionen haben.
Sehen Sie aktuell eine
Rückwärtsentwicklung in Russland?
Nein, das ist eigentlich eine lineare Entwicklung.
Gorbatschow wollte eine Erneuerung der Kommunistischen Partei, nicht Demokratie. Putin macht jetzt quasi
eine Erneuerung der Staatsmacht. Seine neue Partei, Einiges Russland, da merkt man schon wohin die Reise
in Wirklichkeit geht. Das ist in dem Spektrum, das wir gewohnt sind an politischen Parteien, ja gar nicht
positionierbar.
Wirtschaftsblatt.at
18.06.2009